Reportage – über die Friedhofs- & Müllkippenkinder auf den Philippinen
Es lässt sich in einem Satz sagen, dass dies die bislang und mit Abstand schrecklichste und zugleich schönste Reise meines Lebens war. Schrecklich auf der einen Seite wegen der katastrophalen, gar surrealen Lebensumstände der Kinder auf den Philippinen. Auf der anderen Seite haben die Kinder mein Herz weit mehr geöffnet, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die Hoffnung, der Glaube und die Liebe dieser Kinder ist viel größer als die Welt, in der sie leben.
„Man sagte mir es sei eine andere Welt, doch ich antwortete, nein, es ist dieselbe!“
Alexander von Wiedenbeck // Philippinen, 2015
Aber gehen wir zurück zum Anfang. Es war der Gedanke, etwas zurückzugeben. Bei all den zahlreichen Werbeproduktionen, den Modestrecken, den Portraits rund um den Globus habe ich viel erlebt und viel gesehen… zumeist nur Gutes. Ich habe inspirierende Menschen getroffen, magische Orte bereist und intensive Momente erlebt. Die Welt hat mir viel gegeben und es war nun an der Zeit, sich zu revanchieren. Doch wie, wo und vor allem bei wem? Zehn deutsche Hilfsorganisationen hatte ich daher angeschrieben und meine Unterstützung angeboten und viel mehr noch, meine Vision in den Raum gestellt von einem Pionierprojekt der sozialen Verantwortung innerhalb der Fotografie. Nach zahlreichen Gesprächen, Überlegungen und beim Vergleich der knallharten Fakten, fiel meine Wahl dann auf die Aktionsgruppe Kinder in Not e.V. aus Windhagen mit ihren Projekten auf den Philippinen. Friedhofskinder, Müllkippenkinder, Zwangsprostitution von Kindern waren dabei die Begriffe, welche mich erstarren ließen und mich dazu bewegt hatten, hier zu beginnen.
Nun, der erste Schritt war getan, das Projekt steht – doch wie geht’s weiter? Wie sollte man sich auf die Reise vorbereiten, körperlich mit Impfungen et cetera… oder, die viel wichtigere Frage, mental? Schließlich möchte man meinen, dass einen einiges erwartet, wenn man von Kindern auf Friedhöfen und Müllkippen hört. Selbstverständlich informiert man sich im Vorfeld, liest Berichte, sieht Reportagen darüber… aber nun, im Nachhinein betrachtet, hätte es nichts gegeben, was mich tatsächlich auf diese Reise hätte vorbereiten können. Wenn man erst mal inmitten des Sumpfes aus Müll, Ratten, abgemagerten und erkrankten Hunden steht und dann in einem Bretterverschlag, gerade mal 2×2 Meter, ein kleines Mädchen, weinend und umzingelt von Fliegen vor einem steht… was will man sich da vorbereiten und wie könnte man sich überhaupt anmaßen, dass man sich auf so etwas vorbereiten könnte.
„Unvorstellbar – das Leben in einem Verschlag von gerade mal 2×2 Meter – tagein tagaus.“
Alexander von Wiedenbeck // Philippinen, 2015
Und doch, ich habe meine Mission und muss daher funktionieren als derjenige, der ich bin… der Fotograf, der vermeintliche Voyeur, der das Unmittelbare realisiert und festhält, ohne dabei zu interagieren, ohne zu verändern. Und was sollte man auch verändern, einem weinenden Kind sagen „Bitte lächeln, hier kommt das Vöglein“?… Schwachsinn! Der Moment war da, in seiner vollen und gnadenlosen Härte, ungeschönt… also halte ich drauf und drücke den Auslöser!
Ich erinnere mich noch gut an einen der ersten Abende in Cebu City, zusammen mit meinen Reisebegleitern von der Aktionsgruppe saß ich bei ihnen im Hotel zum Abendessen und wir sprachen über die Erlebnisse des Tages oder besser gesagt, wir verarbeiteten selbige. Der Weg zurück zu meinem Hotel führte mich danach ca. 500 m durch die Innenstadt. Zuletzt überquerte ich eine große, stark befahrene Kreuzung kurz vor meinem Hotel, als ich auf dem Gehsteig die Gestalt eines kleinen Menschen erkennen konnte. Ich ging darauf zu und tatsächlich war es ein kleines Mädchen, kaum fünf Jahre alt, welches in kurzer Hose, T-Shirt und ohne Schuhe auf dem Gehsteig lag, mit dem Kopf in Richtung des starken Gefälles ohne Kissen oder Ähnlichem. Im Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos sah man die starken Rauchwolken der ungefilterten Abgase, welche über sie hinwegzogen.
„Alle Menschen, alle Kinder haben eines gemeinsam – ihr Recht zu leben, ihr Recht zu existieren!“
Alexander von Wiedenbeck // Philippinen, 2015
Wie erstarrt stand ich sicherlich eine halbe Stunde neben dem schlafenden Mädchen und überlegte mir die Optionen. Wen könnte man anrufen, die Polizei oder einen Krankenwagen, vermutlich eher nicht, was sollten sie auch tun. Wer kann einem in so einer Situation helfen? In der Not wandte ich mich an den Sicherheitsdienst meines Hotels, der mich nicht unweit bereits beobachtet hatte. Ich fragte ihn, ob er das Mädchen kennen würde und wo die Eltern seien. Er sagte, sie ist obdachlos und ihre Eltern sind vermutlich unterwegs, Pfandflaschen sammeln oder Ähnliches. Auf mein weiteres Drängen, was wir denn tun könnten, zuckte er nur mit den Schultern. Ich ging also wieder zurück zu dem Mädchen, wo sich mittlerweile ein Amerikaner mit seiner kleinen Tochter eingefunden hatte. Er hatte das Mädchen auch gesehen und wollte seiner Tochter zeigen, dass sie/wir dankbar für unsere Umstände in der westlichen Welt sein dürfen. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über das Mädchen und was wir tun könnten. Für einen Augenblick hatte ich sogar überlegt, dem Mädchen ein Zimmer im Hotel zu buchen, damit sie mal in einem richtigen Bett schlafen und duschen oder baden konnte… aber was mache ich dann am nächsten Tag? Und wie wir da so standen und überlegten, trat ein anderer Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes an uns heran. Er leuchtete die Kleine mit der Taschenlampe von oben bis unten an, trat mit dem Fuß gegen das Mädchen um sie zu wecken und scheuchte sie dann davon. Unter der gegenüberliegenden Brücke inmitten der Straßenkreuzung sah ich im Dunkeln nur noch ihre Silhouette, wie sie sich dort erneut zum Schlafen auf den Boden legte. Schockiert, verwirrt und tatsächlich ungläubig, was gerade geschehen war, fragt ich den Mann, ob das jetzt besser sei, er zuckte nur mit den Schultern wie sein Vorgänger und meinte in gebrochenem Englisch, „what should we do?“. Und in diesem Moment dachte ich: Er hat recht, was sollen wir machen? Den Rest der Nacht verbrachte ich schlaflos…
HOPE – by Alexander von Wiedenbeck
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